Die alten Wanderer - oder die Flüsterwesen

Nur ein kleines Feld trennt Gründel vom Dorteil Schwinge. Wer über den Irrkamp wandert – ohne sich seine Augen zu verbinden – riskiert es, sich umzuschauen. Erst sieht man nur ein leeres Feld. Doch dann tauchen Gestalten auf. Meist aus deiner Vergangenheit:

 

Der brutale Vater oder eine Großtante, die dir schwere Vorwürfe macht. Familientragödien werden noch einmal in voller Schrecklichkeit gezeigt. Geister erscheinen, die eher den eigenen Alpträumen gleichen. Am schlimmsten geht es denen, die sich selber sehen: In einer grotesken Gestalt, mit allen Narben und Wunden aus der Vergangenheit – nur klaffen die Wunden viel tiefer. Du siehst dein verletztes Selbst – völlig gebrochen.

 

Einige sind danach lange nicht ansprechbar – und können nur mit größter Müh halbwegs wieder hergestellt werden. Sie werden aber nie wieder dieselben wie vorher.

 

Andere sitzen schaukelnd in einer Ecke und murmeln für lange Zeit eine fremde Sprache. Nur, um dann immer wieder einen Satz zu sagen: „Immer schön langsam. Und dann mit einem Ruck!“

 

Die meisten, die einen Blick riskiert haben, haben sich ihr Leben genommen. Schnell, mit einem Ruck – oder langsam mit zu vielen Drogen des Vergessens.

 

...warnte der Alte.

 

Eine Augenbinde schützt aber nicht zu 100%. Manchmal versuchen fremde Hände dir deine Augenbinde abzunehmen. Stimmen versuchen die Irrläufer zu verführen: „Zück dein Messer. Und bring es endlich zu Ende! Nie wieder brauchst du dich zu sorgen. Deine Schmerzen hören auf – für immer!“

 

Eine schnelle Flucht oder gar ein Kampfversuch macht es nur viel schlimmer. Schleichen, fühlen, hören – und kurz mit den Stimmen reden, sollen bessere Strategien sein.

 

Manche denken, der Irrkamp hieße so, weil man auf dem „Kamp“ (Feld) umherirren muss. Auch wenn man das tut – der Name hat eher mit der Auswirkung zu tun. Ein wenig wahnsinnig scheinen alle zu werden, die zu oft über den Irrkamp getastet sind.

 

Fjornika, die Schnelle, soll schon 12-mal über den Irrkamp gewandert sein. Sie schrieb:

 

„Du kannst deinen Sinnen kaum trauen. Aber am sichersten erscheinen mir die Vogelstimmen. Wenn ich ganz ruhig bleibe und den Vögeln lausche, finde ich schneller als alle andere einen Weg auf die andere Seite. Dabei hörte ich auch schon am Tage die Rufe der Nachtigal und auch der Mondeule.“

 

Der Irrkamp ist nur ein zeitliches Phänomen. Er entsteht für 16-18 Jahre und verschwindet dann wieder für mehr als 60 Jahre. Die Menschen beobachten den Zyklus zwar schon lang, aber verstanden, hat ihn noch niemand. Es könnte etwas mit dem alten Gräberfeld zu tun haben. Denn dieses verändert sich zur gleichen Zeit.

 

Der Priester des Dorfes ist überzeugt davon, dass es an den Sünden der Dörfer läge. Die allzu rauschenden Feste der Flüsterfeste gebäre finstere Schatten. Erst mit dem Ende des Rausches, verschwinden auch wieder die Geister und Dämonen. Als Fjornika, die Schnelle, schrieb:

 

„Die Dörfler hier haben keinen Einfluss auf den Irrkamp. Einmal flüsterte eine alte Stimme in mein Ohr die Geschichte von der Kinder-Schlacht. Ich mag nichts davon wiedergeben, aber ich glaube, die ersten Siedler haben diesem Ort so viel Leid gebracht, dass…“

 

Man solle annehmen, dass dies besonders schlecht für das geteilte Dorf sei. Aber es scheint eher so, als gedeihe Gründelschwinge vor allem in der Phase des Irrkamps. Händler, Reisende, Suchende, Abenteuerlustige und Kranke werden förmlich angezogen – und verprassen ihre Güldinge. Und je mehr die Obrigkeit den Rauschgifthandel verfolgt, desto besser laufen die Geschäfte der Schattenhändler.

 

Gründel und Schwinge haben den Irrkamp akzeptiert. Die meisten meiden ihn und nutzen lieber den Pfad durch den Wald. Oder bleiben einfach dort, wo sie sind.

 

Vor zwei Jahren begann wieder die Zeit des Irrkamps.

 

Eine Geschichte zum Irrkamp - "Das Lied der Befleckten"

 

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