Dunkelheit umgibt mich. Wo bin ich hier? Und wie bin ich hierher gekommen? So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich einfach nicht erinnern. Mein Körper fühlt sich komisch an. Seltsam leicht. Meine Schritte verursachen nicht das leiseste Geräusch.
Ich hab jegliches Zeitgefühl verloren. Ob ich schon Minuten, Stunden oder sogar Tage hier bin, kann ich beim besten Willen nicht sagen.
Plötzlich durchzuckt mich ein brennender Schmerz. Meine Eingeweide brennen wie Feuer. Wie von selbst fasse ich auf meinen Bauch. Mein Hemd ist feucht und ich spüre, dass ich blute. Meine Finger färben sich rot. Ein Gedanke durchzuckt meinen Kopf. Ich wurde . . . angeschossen. Es gab einen Kampf. Ich wollte . . . jemanden beschützen.
So schnell der Schmerz gekommen ist, so schnell verschwindet er wieder. Hektisch betaste ich meinen Unterleib, aber da ist nichts mehr. Kein Loch mehr, aus dem Blut fließt. Kein durchtränktes Hemd. Keine klebrigen Finger. Nichts.
Die Dunkelheit bewegt sich. In das einheitliche Schwarz kommen Schattierungen, als würde Nebel anfangen zu wabern. Spielen mir meine Augen einen Streich? Ich sehe die Gestalt eines vierschrötigen Mannes. Sein wankender Gang verrät, dass er betrunken ist. Wütend schnauzt er mich an: „Du warst schon immer nichts anderes als eine gottverdammte Enttäuschung!“ Als er seine Hand hebt, schlage ich instinktiv zu. Meine Faust trifft die Gestalt ins Gesicht und der Nebel stiebt auseinander. Ich bin wieder allein.
Ich höre von hinter mir eine zitternde Stimme. „Halt, keinen Schritt weiter.“ Erschreckt drehe ich mich um. Vor mir steht die graue, unstete Gestalt eines jungen Mannes Anfang 20. Er trägt eine Militäruniform und zielt mit einem Gewehr auf mich. Nicht nur seine Stimme zittert, auch seine Hände haben Mühe, die Waffe gerade zu halten. In seinen Augen glaube ich eine Mischung aus Furcht und . . . Trauer zu erkennen. „Ich kann dich nicht gehen lassen. Nicht nach dem, was du getan hast.“ Der Mann ringt mit den Tränen. Ich hebe beschwichtigend meine Hände und will einen Schritt auf ihn zugehen, da lässt er sein Gewehr fallen und wirft sich mir entgegen. Ich versuche, mein Gesicht mit den Händen zu schützen, doch der erwartete Aufprall bleibt aus. Als ich meine Augen wieder öffne, ist der junge Mann verschwunden. Zurück bleibt nur eine bleierne Kälte, die sich in meinem Inneren ausbreitet.
Die Kälte greift nach jedem Teil von mir. Sie fließt in meinen Adern, jeder Herzschlag katapultiert sie weiter in meinen Körper. Bald ist alles kalt und schwer. Haut und Haare, Fleisch und Knochen. Ich fühle mich so elend wie noch nie. Ich will schreien, will all meine Verzweiflung hinaus brüllen, aber als ich meinen Mund öffne, kann ich nicht. Kein Laut ist zu hören. Die Kälte bleibt. Ich kann nicht mehr.
Etwas berührt sanft meine Wange. Augenblicklich weicht die Kälte zurück, ich spüre Wärme in meinem Gesicht. Verwundert öffne ich die Augen. Ein Lichtstrahl durchdringt die Finsternis um mich herum. Als ich mich umdrehe, sehe ich ein großes, warmes Licht, das leicht zu pulsieren scheint. Fast wirkt es so, als würde es mich rufen. Auf einmal verspüre ich den Drang, zum Licht zu gehen. Ich weiß einfach, dass dann alles gut wird. Die Kälte und die Schwere in mir werden verschwinden. Schuld, Trauer, Verzweiflung, Hass – alles wird in der Dunkelheit zurückbleiben, ich muss lediglich ins Licht treten. Dort warten Ruhe und Frieden auf mich. Ich beginne, in Richtung des Lichtes zu gehen. Meine Schritte werden immer schneller. Ich fange an zu laufen. Da höre ich plötzlich ein Rufen. Eine Frauenstimme ruft verzweifelt: „Bitte komm zurück, John.“ Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich kenne diese Stimme, aber ich weiß nicht, wer da spricht. Das Bild einer blonden Frau zuckt vor meinem inneren Auge vorbei. Ich werde langsamer und komme zum Stehen. Das Licht pulsiert immer noch, es wirkt noch genauso einladend wie zuvor. Es scheint nicht mehr weit zu sein, nur noch ein kurzer Stück, dann hätte ich es geschafft. Doch Zweifel regen sich in mir. Ich kann noch nicht gehen, oder? Es ist noch nicht soweit. Eine zweite Stimme erklingt, ebenso flehentlich. Der Sprecher scheint mit den Tränen zu kämpfen. „Non, tu uns das nischt an, du sturer Mistkerl.“ Sie sorgen sich um mich. Sie warten auf mich. Ich werfe einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf das warme Licht. Ich atme tief ein. Als ich ausatme, lasse ich all die verheißungsvollen Versprechungen des Lichtes ziehen. Dann drehe ich mich ruckartig um und renne auf die Stimmen zu. Heiße Tränen laufen meine Wangen herunter. Das Licht war verlockend, aber ich kann nicht gehen. Noch nicht. Ich bin noch nicht fertig. Ich werde noch gebraucht. Sie verlassen sich auf mich. Die Stimmen werden lauter, ich komme immer näher. Dann höre ich die Stimme der Frau direkt an meinem Ohr. Leise flüstert sie: „Komm zurück zu mir.“ Und die Dunkelheit verschwindet.
Ich schlage die Augen auf. Reize überfluten meine Augen, meine Ohren. Ich liege auf einem weichen Bett. Scheinbar befinde ich mich in einer Hütte. Über mich gebeugt steht eine große Gestalt in einer Art dunklem Kapuzenumhang. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, nur ihre Augen. Ihr durchdringender Blick wirkt so, als könne er direkt in meine Seele blicken. Ich weiß, wer das ist. Oder vielmehr was. Ich habe schon viel über die Narune gehört, aber noch nie einen gesehen. Seine Stimme ist tief, rau und kalt, als er zu sprechen beginnt. „Du warst tot und jetzt lebst du wieder. Du hast die andere Seite gesehen. Das verändert einen Mann. Ich weiß nicht, welche Auswirkungen es auf dich haben wird, aber du bist jetzt ein anderer.“ Mit diesen Worten zieht sich der Narune zurück. Mühsam richte ich mich von dem Bett auf. Neben mir kauern zwei Personen. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich meine Frau erkenne. Ihr Bruder steht neben ihr und hält ihre Hand. Beide haben geweint. Jetzt fällt meine Frau mir um den Hals. „Mach so was nie wieder, hörst du?“ Ich spüre ihre Wärme auf meiner Haut und nehme sie in meine Arme. Mein Schwager legt mir sanft seine Hand auf die Schulter und lächelt mich mit seinem von Tränen verquollenen Gesicht an. So vielversprechend das Licht auch war, ich bin genau da, wo ich hingehöre.
Geschrieben und gesprochen von Dominic Schwetje