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Die Hymne von Tollgund

„Vor langer Zeit sangen auch die Menschen von Tollgund die Hymne des Reiches. Silurien war Tollgund. Und Tollgund war Silurien.

 

Doch Ihr wisst, so ist es nicht mehr. Tollgund mag zwar noch, wie es in den alten Schriften steht, die Hauptstadt des Reiches sein – und Länder wie das Havland oder Alwingen sehen das noch so. Aber fragt man die Silurier, bekommt man andere Antworten:

 

Die Bauern und Unfreien zögern, neidisch auf die Freiheit der Tollgunder. Oder, sie wünschen sich im Herzen dort zu sein.

 

Den Kaufleuten ist es gleich. Die Künstler singen von Tollgund. Die Priester schütteln mit bedenklicher Miene den Kopf. Und der Landadel wird blutrot im Gesicht, würde am liebsten mit seinen blau-schwarzen Svarturen über Tollgund herfallen und die Freigeister, Künstler und Landesverräter einsperren, nein, aufhängen lassen!

 

Aber sie haben alle genug mit sich selbst zu tun. Priesterschaft und Adel liegen im Streit, auch untereinander befehden sich die Adelshäuser. Kriegsfürsten versuchen die Macht an sich zu reißen. Denn der König… der ist schwach. Ja, Silurien hat einen den Kinderkönig. Die einen sehen in ihm die Ausgeburt des Falschtodes – ein kleines Ungeheuer… Ein Verschlinger! Die anderen sagen: „Der König? Der ist dumm wie ein Fisch. Und zählt erst acht Winter. Er wird von den wahren Mächtigen gelenkt. Eine Puppe mit blutigen Fäden…“

 

Die Rotstein verweigern meist höflich die Forderungen des Königs. Er verlangt einfach zu viel. Manchmal stimmen sie auch zähneknirschend zu. Silurien braucht seine Hauptstadt. Aber Tollgund braucht auch Silurien. So leben wir in einem faulen Gleichgewicht. Das nicht ewig währen wird… Oh, ich schweife ab… die Hymne!

 

Eines Sommerabends da beklagte sich der kleine Fengar bei seiner Mutter:

 

„Warum singen wir beim Lichterfest auf unser Reich? Und unseren König. Doch hier in der Taverne spucken die Erwachsenen dann auf den Adel. Und auf alles, was damit zu tun hat. Wir sind doch nur stolz auf unsere Stadt. Und die Viertel. Die Kunst… und die Freiheit! Mutter, wir hassen doch den Adel!“

 

Sie saßen an einem Tisch in der Taverne Sold und Sühne. Der fein gekleideten Mutter war diese kindliche Offenheit sichtlich unangenehm. Doch dann stand Fengar auf und begann zu singen. Erst ganz leise. Dann voller Stolz! So, wie er Tollgund fühlte.

 

Als seine Stimme verstummte wurde es in der Taverne grabesstill. Eine Beklemmung lag in der Luft… als sei eine Schuld und unangenehme Wahrheit endlich ausgesprochen und enttarnt worden. Still war es, totenstill.

 

Dann schabte ein Stuhl zurückgeschoben über die Dielen. Ein alter Barde in einer Ecke hatte sich erhoben. Tränen liefen über sein zerfurchtes Gesicht. Und dann begann er zu singen. Sang jedes Wort des Kleinen nach. Die neuen Worte mit der alten Melodie. Einige stimmten ein, mehr und mehr, endlich sang die ganze Taverne mit. Seit jenem Abend wurde in der Hauptstadt die alte Hymne nicht mehr gesungen. Sondern nur noch die Hymne von Tollgund:

 

„Mein liebes Land, warum schlägst du mich?

Du streckst die blaue Hand, wir haben nur Rot für dich!

Mein liebes Land, deine Krone leuchtet matt.

Trägst du nur stolz dein Fesselband, lieb‘ ich nur meine Stadt!

 

Wir ruhen nicht in Stein, bei uns da steht kein Haus.

Wenn du rufst, oh König, spucken wir nur einmal kräftig aus.

Bei uns gibt’s Totengräber mehr als Soldaten königlich.

Kommst du mit deinen Blauen, begraben wir sie für dich!

 

„Willkommen jeder Gast!“ – singt der Hahn,

ein Fremder kann hier leicht Fuß fassen.

Gleich nebenan – das lumpige Rottenpack

verkriecht sich still in dunkle Gassen.

 

Alte Götter aus dem Norden, ehrhaft und rau,

euer Nachbar bleibt ein alter Feind.

Diese Bauern brüllen – mutig und frei!

Doch in der Not schreien sie vereint!

 

Das Herz reicht Markt, Met, Tee und Theater,

Pflicht für die Wacht – Fressen für den Dieb.

Davor posieren Alchemisten, Händler, Künstler, Basilisken,

die Gilden haben die Münzen lieb.

 

Zurück sind die Vertriebenen.

Wir haben für sie geweint.

Sind wir auch voller Unterschied,

gegen dich stehen wir vereint!“

 

geschrieben von Fengar K. Rotstein


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